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Wozu Literatur lesen? Der Beitrag des Literaturunterrichts zur literarischen Sozialisation von Hauptschülerinnen und Hauptschülern Es ist bislang nur wenig bekannt über die unterrichtlichen Praktiken des Lesens von literarischen Texten und ihren Einfluss auf das Leseverhalten von Schülerinnen und Schülern in der Hauptschule. Leider muss nach Untersuchungen aus der Lesesozialisations- und der Lesebiographieforschung davon ausgegangen werden, dass die Schule insgesamt für schriftfern aufwachsende Schülerinnen und Schüler noch zu wenig Gelegenheit bietet, genussvolle literarische Erfahrungen zu machen oder weiterführende Lesekompetenzen zu erwerben. Dies liegt einerseits daran, dass Lehrerinnen und Lehrer implizit von einer Vorstellung des Lesens und Lesenlernens ausgehen, in der die heterogenen Erfahrungen ihrer Schülerinnen und Schüler mit Sprache, Schrift und Literatur nicht aufgehoben sind. Andererseits verfügen gerade viele Schülerinnen und Schüler in der Hauptschule häufig nicht über die lesebiographisch bedeutsamen Erfahrungen mit Literatur, die nachweislich zur Ausbildung von Leseinteressen und stabilen Lesehaltungen führen und die in der Schule meist vorausgesetzt werden. Es sind diese Erfahrungen, die den Erwerb einer weiterführenden Lesekompetenz oder literarischen Rezeptionskompetenz erheblich erleichtern. Es stellt sich also die Frage, welche Rolle die Schule und der Unterricht in der Lesesozialisation und der literarischen Sozialisation spielt und spielen kann. In der Deutschdidaktik ist in den letzten Jahren nur vereinzelt versucht worden, die Grundlagen für ein Modell des Literatur-Erwerbs im Unterricht zu beschreiben. Dies wird in der Arbeit anhand eines format-orientierten Erwerbsmodells versucht. Dabei werden besonders Erkenntnisse der englischsprachigen Leseforschung ausgewertet und für die didaktische Modellierung fruchtbar gemacht. Der empirische Teil der Arbeit umfasst die Beobachtung und Analyse von Literaturunterricht in mehreren Hauptschulklassen aus Baden-Württemberg und Hessen und Interviews mit den Deutschlehrerinnen dieser Klassen. In den Falldarstellungen werden die verschiedenen unterrichtlichen Praktiken des Lesens von Literatur in ihrer Funktionalität beschrieben. Anschließend wurden diese Praktiken daraufhin betrachtet, inwieweit sie geeignet sind, Kindern und Jugendlichen beim Erwerb der literarischen Rezeptionskompetenz zu unterstützen.
Die hier vorgelegte Untersuchung verfolgt die Absicht, die Bedingungen, unter denen sich die literarische Sozialisation im ‚Bildungskeller’ vollzieht, am Beispiel von Schülerinnen und Schülern der Förderschule näher auszuleuchten. Drei Problemzusammenhänge – der Verlauf der Medien- und Lesesozialisation, die Erfahrungen mit Literatur, die Kompetenzen zur literarischen Rezeption – markieren die zentralen Forschungsanliegen der Arbeit. Die theoretisch ausgerichteten Kapitel der Untersuchung erörtern Fragestellungen der Lesesozialisationsforschung und des Literaturunterrichts an Förderschulen, der Forschungsmethodologie und der Entwicklung des literarischen Verstehens. In den Teilen der Arbeit, die der Darstellung und Auswertung empirisch erhobener Daten dienen, rücken die Perspektive und die Kompetenzen der SchülerInnen in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses: Zum einen werden mittels einer Befragung erhobene Befunde zur schulischen und außerschulischen Medien- und Lesesozialisation dargelegt, zum anderen werden Schülerarbeiten vorgestellt und im Hinblick auf literarische Verstehensleistungen analysiert. Durch die gewählte Vorgehensweise wird vielfältiges Material gewonnen, das eine Annäherung an den Themenkomplex ‚Literaturerwerb im Bildungskeller’ aus unterschiedlichen Blickwinkeln erlaubt. Anhand einschlägiger Ergebnisse der Lesesozialisationsforschung sowie der Analyse didaktisch-methodischer Vorschläge zum Literaturunterricht in der Sonderschule werden zunächst die Perspektiven der Leseforschung und der sonderpädagogischen Didaktik eruiert. Die Selbstaussagen der befragten Jugendlichen wiederum erlauben eine Problematisierung, Ergänzung und Modifikation dieser Befunde und Sichtweisen. Aus der Zusammenschau dieser unterschiedlichen Aspekte kristallisiert sich ein beträchtliches Spannungsverhältnis zwischen den Erkenntnissen der empirischen Lesesozialisationsforschung und der literaturdidaktischen Theoriebildung auf der einen Seite sowie der sonderpädagogischen Didaktik und Unterrichtspraxis auf der anderen Seite heraus. Schlüssig lässt sich daraus die Notwendigkeit einer Neuakzentuierung des Literaturunterrichts herleiten. Mit den im Rahmen der Unterrichtsforschung gewonnenen Erkenntnissen steht ein Baustein bereit, der erste Hinweise auf eine mögliche Neukonzeption des sonderpädagogischen Literaturunterrichts gestattet – zeichnet sich doch in der Analyse der Rezeptionsprodukte ein Potenzial an literarischen Kompetenzen ab, das in bislang vorliegenden Vorschlägen zur Gestaltung des Literaturunterrichts an Förderschulen keine Beachtung findet.